31.08.-08.09.2024

30.08.2024 Preview Day

LEIDENSCHAFT, DIE VERBINDET.

31.08. – 08.09.2024

30.08.2024 Preview Day

Das Pfotenwunder – eine tierische Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte

Lesen Sie eine spannende Wohnmobil-Weihnachtserzählung von der Bloggerin Heike Kügler-Anger.

Ich hätte wissen müssen, dass meine spontane Entscheidung ein Fehler wäre. Frustriert hieb ich mit der flachen Hand auf das Lenkrad meines betagten Wohnmobils. In dem Moment vernahm ich ein ungewohntes Geräusch, so als protestiere mein mir seit mehr als 25 Jahren treu ergebenes Gefährt.

Doch es war nur das Quietschen der Scheibenwischer, die dem Ansturm der Graupelkörner, die auf die Windschutzscheibe prasselten, kaum mehr Herr wurden. Mit Sorge sah ich, wie sich verstärkt Schneeflocken unter die Graupel mischten. Eine tückische Kombination, die dazu führte, dass die bis dahin trockene Fahrbahn sich innerhalb kürzester Zeit in eine gefährlich rutschige Piste verwandelte. Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel meiner Hände hervorstachen, und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Der Schneefall wurde dichter. Die Fichten neben der Autobahn wechselten die Farbe, von Grün zu Weiß. Der Lkw, der seit einer halben Ewigkeit hinter mir herfuhr, scherte plötzlich auf die linke Fahrbahn und zog an mir vorbei, klatschte mir dabei eine Ladung Schnee auf die Kühlerhaube und die Frontscheibe. Meine Scheibenwischer (wann hatte ich die Blätter eigentlich das letzte Mal gewechselt?) zeigten sich vom Ansturm der frostigen Masse prompt überfordert. Im Radio erklangen die ersten Takte von »I’m dreaming of a White Christmas«.

»Ihr könnt mich mal mit Eurem White Christmas«, fluchte ich laut. Warum hatte die Wetterprognose ausgerechnet für heute total danebengelegen? Die Wetterfrösche hatten auf allen Kanälen unisono Nieselregen bei plus zehn Grad Celsius prognostiziert und damit das typisch deutsche Weihnachtswetter vorhergesagt. Weit gefehlt! Ich steckte gerade in einem wahrhaftigen Blizzard, mit dem Schnee war auch Wind aufgekommen, der die Flocken direkt auf mich zutrieb. Die Bremslichter des Pkw vor mir flammten plötzlich auf, kamen alarmierend schnell näher. Ich drückte den Fuß mit aller Macht aufs Bremspedal, hatte das Gefühl, dass ich kurz davor stand, die Bodenplatte zu durchlöchern. Mein in Würde gealterter Vollintegrierter kam ins Schlingern, brach einen Moment aus, und ich hatte Mühe, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich wusste: Noch so einen Fahrfehler würde er mir bei den Wetterbedingungen nicht durchgehen lassen, beim zweiten würde ich die Leitplanke touchieren, einen Unfall bauen.

»Reiß dich zusammen«, presste ich zwischen bebenden Lippen hervor. »Du bist nicht losgefahren, um Heiligabend im Krankenhaus zu landen.«

Nein, ich hatte einfach nur von zu Hause weggewollt. Hatte ein paar Klamotten und Handtücher ins Wohnmobil geschmissen sowie die Lebensmittel vom Kühlschrank in der Küche in den des Wohnmobils geladen. Hatte mich ans Steuer gesetzt, war abgebraust, ohne mich noch einmal umzudrehen. Das wäre allerdings auch ein sinnloses Unterfangen gewesen.

Denn wer hätte hinter mir herblicken sollen? Mit Sicherheit nicht Thomas, mein Ehemann, mit dem ich ebenso lange wie mit dem Wohnmobil zusammen war. Er hatte den Vollintegrierten damals mit in die Beziehung gebracht, hatte mich mit dem Camping-Virus infiziert, woraus eine Liebe fürs Leben entstanden war. Mein Wohnmobil hatte mich noch nie im Stich gelassen. Anders als Thomas, der eines Abends vor drei Monaten mit kalter Stimme verkündet hatte, den Vertrag für einen hochdotierten Job in Übersee unterzeichnet zu haben. Ein Job, der für alles stand, das ich verachtete und dessen Anforderungen ich nie mit meinem Gewissen würde vereinbaren können.

»Tu’s nicht!«, hatte ich ihn zum wiederholten Mal gewarnt. »Falls doch, zerstörst du zuerst unsere Beziehung und danach womöglich dich selbst.«

»Das nehme ich in Kauf«, hatte Thomas ungerührt geantwortet und war gegangen. Weg aus unserem gemeinsamen Leben und fort aus meinem Herzen. Ein heftiger Schmerz hatte in dem Moment meinen Brustkorb durchzuckt, und ich hatte gespürt, wie etwas in mir zerbrach. Dann rannte ich mit vor den Mund gepresster Hand ins Bad. Meine Emotionen, all die aufgestaute Wut, das Unverständnis und die Verzweiflung entluden sich mittels eines rebellierenden Magens.

Schwamm drüber. Ich hatte die Toilette geschrubbt, bis sie vor Sauberkeit strahlte und auch meinem Leben einen neuen Glanz verliehen. Dachte ich wenigstens – bis Weihnachten gedanklich am Horizont auftauchte und mit jedem Tag näher rückte. Heute Mittag hatte ich endgültig die Nerven verloren. Nein, Weihnachten ganz allein zu Haus würde für mich nicht in einem verrückten Abenteuer mit Happy End münden. Anders als der achtjährige Kevin, der im Film alle Herausforderungen mit Bravour meistert, wäre ich todunglücklich. Würde dem erstbesten Einbrecher vor Erleichterung, zu Heiligabend überhaupt einen Menschen zu sehen, schluchzend um den Hals fallen und ihn zu Entenbrust, Rotkraut und Knödeln einladen. Und wenn er mich nach dem Essen ausraubte, wäre mir das egal. Hauptsache, ich müsste zu Weihnachten nicht mutterseelenallein unter dem Tannenbaum sitzen.

Um diesem Albtraum zu entkommen, hatte ich mein Wohnmobil reisefertig gemacht und war in Richtung Norden aufgebrochen. In einer Facebookgruppe hatte ich von einem Treffen für Alleinreisende mit dem Wohnmobil gelesen. Über die Feiertage wollte man sich auf einem großen Stellplatzareal zusammentun und die Festtage ohne das in vielen Familien praktizierte gefühlsduseliges Pflichtprogramm verbringen. Das hörte sich nach genau dem an, was ich gerade brauchte. Auch Menschen mit Hunden wären herzlich willkommen, hatte eins der Gruppenmitglieder gepostet. Was mich kurz hatte zögern lassen. Nachdem ich als Kind vom Nachbarsdackel in den Finger gebissen worden war, hatte ich nie wieder ein vertrauensvolles Verhältnis zu bellenden Vierbeinern aufbauen können. Doch meine Angst vor dem Alleinsein war größer als die vor Hunden, sodass ich mich auf den Weg nach Northeim machte. Von Schweinfurt aus waren es nur 250 Kilometer, für eine geübte Fahrerin wie mich locker an einem Tag zu schaffen.

Leider hatte ich die Rechnung ohne die Kapriolen eines übellaunigen Wettergottes gemacht. Die Flocken wurden immer dichter, die Fahrbahn immer eisiger, und ich spürte trotz der Kälte, wie meine Finger vor Aufregung feucht wurden. Ich wischte zuerst die rechte, dann die linke Handfläche an meiner Jeans ab. Der Verkehr hatte in der letzten halben Stunde merklich zugenommen, die Autos zockelten mühsam im Schnee voran, vor allem die Lkws kämpften mit den Wetterbedingungen. Um nicht völlig ausgebremst zu werden, wechselte ich auf die mittlere Fahrspur, obwohl ich mich mit meinem 4,2 Tonner dort nicht recht wohlfühlte. Alle paar Minuten warf ich einen argwöhnischen Blick auf die Lkw-Kolonne neben mir.

Wir befanden uns am Fuße des ersten Anstieges der Kasseler Berge, und ich hatte Sorge, ob die Lkws ihn bei dem Schneefall meistern würden. Eine Viertelstunde später passierte es: Ein Lkw kam ins Rutschen, stellte sich quer, der Fahrer hinter ihm konnte nicht mehr bremsen und fuhr auf, auch einer der Personenwagen vor mir tuschierte das plötzliche Hindernis. Alle Fahrzeuge kamen zum Stillstand. Anderthalb Stunden später stand ich noch immer an derselben Stelle, obwohl inzwischen die Polizei, der Notarzt und zwei Abschleppwagen vorbeigefahren waren. Dunkelheit setzte ein. Mein Magen grummelte, bis auf eine Banane zum Frühstück hatte ich nichts gegessen. Ich fröstelte. Da ich den Motor ausgeschaltet hatte, funktionierte die Heizung nicht. Wann würde es endlich weitergehen? Zum gemeinsamen Grillen mit den anderen Alleinreisenden würde ich es nicht mehr schaffen, ja ich bezweifelte, dass ich heute überhaupt in Northeim ankommen würde. Heiligabend auf der Autobahn, das wäre auch für mich eine neue Erfahrung. Auf die ich gut verzichten könnte. Im Radio dudelte unablässig Weihnachtsmusik, die mir auf die Nerven ging, sodass ich die Aus-Taste drückte. Ich merkte, wie mir die Augenlider schwer wurden, und irgendwann muss ich tatsächlich eingenickt sein, das ungeduldige Hupen des Wagens hinter mir ließ mich aufschrecken. Ich startete den Motor und gab vorsichtig Gas. Endlich ging es weiter, allerdings nur im Schritttempo. Da uns kein Räumfahrzeug passiert hatte, war die Fahrbahn spiegelglatt. Als nach einer gefühlten Ewigkeit eine Ausfahrt in Sicht kam, war ich mit den Nerven so am Ende, dass ich den Blinker setzte und die Autobahn verließ. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, um mich herum konnte ich nichts als schneebedeckte Bäume und Felder erkennen, anscheinend war ich weit von einer Stadt entfernt. Mit Sorge warf ich einen Blick auf die Tankanzeige, der Tank war zu drei Viertel leer. Ich musste dringend eine Tankstelle finden. Aber wo in dieser Einöde? Ich schlich auf meinen vier Reifen die Landstraße entlang, in der Hoffnung, dass gleich ein paar Lichter, Häuser, Geschäfte und eine Tankstelle auftauchen würden. Nichts dergleichen geschah. Mein Navigationssystem hatte zu allem Unglück inzwischen den Geist aufgegeben, wollte mich ständig im Kreis führen. Ich musste mir eingestehen, dass ich mich auf den schmalen, von Eis bedeckten Straßen komplett verfranzt hatte.

»Tolle Weihnachten«, murmelte ich.

Am rechten Straßenrand tauchte etwas auf, das ich im dichten Schneetreiben als Parkplatz auszumachen glaubte, und ich ging das Wagnis ein, von der Straße abzufahren. Der Schnee lag inzwischen fast 20 Zentimeter hoch und mit dem Vorderradantrieb hatte ich Mühe, mir einen Weg durch die weiße Masse zu bahnen. Als ich hoffte, weit genug von der Fahrbahn entfernt zu sein, hielt ich an und versuchte, mich zu orientieren. Im Scheinwerferlicht konnte ich eine Abfalltonne mit Schneehaube ausmachen, ich hatte es tatsächlich auf einen Parkplatz geschafft. Außer der Abfalltonne war dort allerdings nichts. Na prima, dachte ich missmutig. Da war ich von zu Hause aufgebrochen, um den Heiligabend nicht allein verbringen zu müssen und war jetzt irgendwo im Nirgendwo gestrandet. Während die anderen Alleinreisenden in Northeim sicherlich schon in bester Weihnachtslaune wären, näherte sich meine Stimmung dem Tiefpunkt. Tränen des Selbstmitleids schossen mir in die Augen, ich wischte sie mit dem Pulloverärmel weg.

»Sei nicht so kindisch!«, schalt ich mich. »Du bleibst jetzt die Nacht über hier stehen und fährst morgen weiter, wenn die Straßen geräumt sind. Du schaffst das!«

Ich verriegelte Fahrer- und Beifahrertür und zog die Verdunklungsplissees in der Fahrerkabine zu. Dann stellte ich die Heizung an und setzte den Wasserkessel auf den Herd, um mir einen Tee zu kochen. Kurze Zeit später saß ich am Tisch der Sitzgruppe, nippte an der heißen Flüssigkeit und fühlte mich schon wesentlich besser. Nur die innere Kälte wollte nicht weichen. Hatte ich nicht eine Flasche Rum eingepackt? Ein ordentlicher Schuss Rum im Tee würde das Frösteln in Nullkommanichts abstellen. Ich fand den Rum und verzichtete bei der zweiten Tasse komplett auf den schwarzen Tee, nahm nur Wasser, Zucker, einen Spritzer Zitronensaft und reichlich von dem hochgeistigen Getränk. Der Alkohol, auf nüchternen Magen genossen, zeigte sofort Wirkung. Ich spürte, wie sich wohlige Wärme und ein Gefühl der Euphorie in mir breitmachten. Weihnachten allein, dachte ich rumselig, war doch kein Thema, alles easy peasy. Warum hatte ich mir so viele Gedanken gemacht? War völlig grundlos in Panik geraten? Endlich konnte ich den Weihnachtsabend so verbringen, wie ich es für richtig hielt, ohne dass mich Thomas und seine Mutter zum obligatorischen Familienprogramm nötigten.

Endlich war ich frei zu tun oder zu lassen, was ich wollte. Zum Beispiel, eine Zigarette zu rauchen. Seit der Trennung trug ich immer eine Packung Filterzigaretten bei mir und genehmigte mir ab und an eine davon. Zwar mit schlechtem Gewissen, da ich das leidige Laster eigentlich vor zehn Jahren aufgegeben hatte und natürlich wusste, dass es nicht sonderlich förderlich für meine Gesundheit war. Aber Himmel, heute war Heiligabend, da durfte man sich auch mal was gönnen. Ich kramte die Zigarettenpackung und ein Feuerzeug aus der Handtasche hervor. Stutzte. Eine meiner selbst aufgestellten Regeln lautete, dass im Wohnmobil nicht geraucht wird. Sollte ich mich heute darüber hinwegsetzen? Nein. Entschlossen stand ich auf, zog meine Jacke über, öffnete die Tür und stieg die Trittstufe hinunter. Der Schnee reichte mir bis weit über die Knöchel, doch er fühlte sich seltsamerweise nicht kalt an. Ich steckte die Zigarette in den Mund, zündete sie an und nahm einen tiefen ersten Zug. Danach noch einen, blies den Rauch den vom Himmel fallenden Schneeflocken entgegen. Tat das gut! Ich streckte mich, spürte, wie alle Anspannung von mir abfiel. Da vernahm ich ein Geräusch. Ein Rascheln oder Knistern. Ich spitzte die Ohren.

»Ist da jemand?«, fragte ich und kam mir sogleich ziemlich dumm vor. Wer sollte hier in der Pampa, bei diesem Wetter und zu einer Zeit, wo bei den meisten Familien die Bescherung in vollem Gange war, auf dem Parkplatz herumstrolchen? Du hast den von den Bäumen fallenden Schnee gehört, versuchte ich mich zu beruhigen. Zog nochmals an der Zigarette. Hinter mir raschelte es erneut. Langsam drehte ich mich um. Schloss kurz die Augen, weil ich nicht glauben konnte, was ich sah. Aber das furchteinflößende Bild wollte nicht weichen. Das Herz klopfte mir im Hals, und mir fiel vor Schreck die Zigarette aus der Hand. Nur anderthalb Meter von mir entfernt stand ein Wolf! Sein hellgrauer Kopf und der Rücken waren mit Schnee bedeckt, auch die schwarze Nase trug einen weißen Tupfen. Was ihn ein bisschen drollig aussehen ließ. Dann aber zog er die Lefzen hoch und ich glaubte, in seinen Augen ein gefährliches Glitzern ausmachen zu können. Der mächtige Körper spannte sich, so als wolle er zum Sprung ansetzen.

»Nein«, stammelte ich und hob abwehrend beide Hände. Machte einen Schritt zurück und prallte mit der Wade gegen die Trittstufe. Daraufhin ging alles ganz schnell: Ich kam ins Straucheln. Mit einer Drehung des Oberkörpers versuchte ich, das Gleichgewicht wiederherzustellen, doch meine Füße fanden auf dem schneebedeckten Boden keinen Halt. Ich rutschte aus und landete hart auf dem Rücken, wodurch mir für ein paar Sekunden die Luft wegblieb. Wehrlos musste ich mit ansehen, wie der Wolf auf mich zu katapultiert kam. Ich riss den rechten Arm hoch, um ihn schützend vors Gesicht zu legen, doch das massige Tier war schon auf meinem Brustkorb gelandet. Sein heißer Atem streifte meine Wangen. Gleich würden sich seine scharfen Reißzähne in meine Kehle bohren, meinem Leben hier und jetzt ein Ende bereiten. Ich gab einen Laut von mir, halb Schluchzen, halb Wimmern. Der Wolf legte den Kopf schief, hielt inne. Tränen überströmten mein Gesicht.

»Geh weg!«, gab ich gurgelnd von mir. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen, wollte das Tier nicht weiter reizen.

Der Wolf machte mit den Hinterbeinen eine kleine Rückwärtsbewegung, streckte die Vorderpfoten aus und legte sie auf meinen Bauch. Der massige Kopf ruhte zwischen den Pfoten. Ich konnte seine Körperwärme durch die Jacke spüren.

»Braves Tier«, murmelte ich und schöpfte Hoffnung. Hätte ich doch eine Chance, der Bestie zu entkommen? Da mein Reden Wirkung zu zeigen schien, brabbelte ich weiter:

»Wenn du mich gehen lässt, schau ich nach, was ich an Wurst im Kühlschrank habe. Du magst doch Wurst, oder? Ich habe beste Kalbsleberwurst gekauft.«

Beim Wort Leberwurst richtete der Wolf den Kopf auf.

»Leberwurst?«, wiederholte ich lockend und fragte mich gleichzeitig, woher ein Wildtier wie dieses den Begriff kannte. Aber egal. Von mir aus konnte er den gesamten Inhalt meines Kühlschranks fressen, solange es mir gelänge, ohne eine Blessur aus seinen Fängen zu entkommen. »Magst du sie pur oder auf Brot?«, plauderte ich weiter, ohne das Maul beziehungsweise die Zähne aus den Augen zu lassen.

Der Wolf winselte leise. »Also pur, dachte ich mir doch«, sagte ich und wagte es, vorsichtig mit dem Kopf zu nicken. Der Wolf ließ mich gewähren.

»Ich weiß ja nicht, wie es dir ergeht«, fuhr ich fort. »Aber mir wird hier im Schnee ein bisschen kalt. Meinst du, du könntest zur Seite rutschen, damit ich aufstehen kann?«

Der Wolf reagierte nicht.

»So komme ich nicht an die Leberwurst«, stellte ich fest. »Leberwurst«, sagte ich nochmals betont langsam und deutlich.

Der Wolf gab ein Fiepen von sich. Ich winkelte die Arme an, drückte den Oberkörper ein wenig hoch, nahm eine fast sitzende Haltung ein. Da passierte es. Der Kopf des Wolfes kam meinem beängstigend näher, seine lange rote Zunge schnellte hervor, und er leckte mir über die Nase. Einmal, zweimal, dreimal. Ich erstarrte zu Eis, glaubte, vor Angst zu sterben. Würde er mir jetzt die Nase abbeißen?

Nochmals fuhr die raue Zunge über meine Nasenspitze. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass sich eine Art Grinsen auf dem Gesicht des Wolfes breitgemacht hatte, und in seinen Augen funkelte … der Schalk? War ich etwa auf einen Wolf mit Sinn für Humor gestoßen? Erst jetzt fiel mir seine ungewöhnliche Augenfarbe auf. Beide Augen strahlten eisblau. Seit wann haben Wölfe blaue Augen, wunderte ich mich. Im nächsten Moment kam die Erkenntnis: Das war kein Wolf, sondern ein großer, wolfsähnlicher Hund, wahrscheinlich ein Husky. Aber auch der könnte gefährlich sein. Ich setzte weiter auf Deeskalation.

»Leberwurst«, säuselte ich.

Der Hund stupste mit der Nase gegen mein Ohr, sprang auf und umrundete mich bellend. Ich wagte es, langsam auf die Beine zu kommen, klopfte mir den Schnee von Hose und Jacke. Dabei ersann ich einen Plan: Ich würde die Wohnmobiltür aufreißen, blitzschnell ins Innere springen und die Tür augenblicklich wieder hinter mir zuschlagen. Sollte der Husky, der jetzt spielerisch nach Schneeflocken schnappte und überhaupt nicht mehr bedrohlich wirkte, doch sehen, wo er bliebe. Ich würde mich im Wohnmobil verbarrikadieren und beim ersten Tageslicht aufbrechen. Ohne noch einmal nach draußen zu gehen.

»Braver Hund«, lobte ich. »Du wartest jetzt schön hier und ich hole die Wurst.« Humpelnd setzte ich mich in Bewegung, fasste nach dem Türgriff. Ich hatte die Tür kaum zehn Zentimeter weit geöffnet, da drängte sich der Hund an mir vorbei, drückte sich durch die Lücke und war vor mir im Wohnmobil. Wo er sich den Schnee aus dem Fell schüttelte und sich mit einem wohligen Grunzen vor der Heizung niederließ. Ich straffte die Schultern, machte mich so groß wie möglich, um den Hund zu beeindrucken.

»Raus!«, befahl ich und zeigte mit ausgestreckter Hand auf die geöffnete Tür. Der Husky reagierte nicht, blieb unbeeindruckt liegen. Ob ich es wagen könnte, ihn am Nacken zu packen und nach draußen zu bugsieren? Nein, dazu fehlte mir der Mut. Außerdem trug er kein Halsband. Ich musste es anders versuchen. Ich hängte meine Jacke an den Garderobenhaken, öffnete die Kühlschranktür und fischte die Leberwurst heraus. Aus dem Küchenoberschrank nahm ich den Brotlaib, den ich unterwegs noch schnell gekauft hatte, schnitt eine Scheibe ab und verteilte fingerdick Wurst darauf. Anschließend teilte ich die Scheibe in mundgerechte Häppchen, hielt eins davon dem Husky vor die Nase. Erst schnupperte er misstrauisch, dann nahm er vorsichtig, fast höflich die ihm angebotene Portion.

»Guter Hund.« Ich wiederholte das Prozedere. Dabei streifte sein Hals meine Hand, und ich bemerkte, wie weich und flauschig das Fell war. Nicht so rau und borstig, wie ich angenommen hatte. Ich unterdrückte den Impuls, dem Hund über den Rücken zu streicheln, legte stattdessen ein Stück Brot auf die Fußmatte vor der Türschwelle.

»Hol’s dir!«

Der Husky ignorierte mich.

Ich legte ein zweites Stück auf die Matte und wiederholte meinen Befehl. Auch diesmal geschah nichts. Ich wechselte die Taktik. Ich hielt ihm ein Brotstück direkt vor die Nase, die erwartungsvoll zuckte. Nun zog ich die Hand ein wenig zurück, wodurch der Hund den Hals streckte. »Komm, komm«, lockte ich und machte einen Schritt in Richtung Eingangstür. Der Hund ließ mich nicht aus den Augen, rührte sich jedoch nicht. Nochmals wedelte ich mit dem Leckerbissen vor seiner Nase und warf ihn dann schwungvoll hinaus in den Schnee.

»Du willst den Wursthappen doch nicht verkommen lassen?«, wunderte ich mich.

Der Husky legte den Kopf auf die Pfoten und warf mir aus den eisblauen Augen einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich wusste, wann ich mich geschlagen geben musste.

»Also gut, dann bleibst du halt«, seufzte ich und schloss die Tür. Der Schneefall war wieder dichter geworden und die Temperatur weiter gefallen. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt, schoss es mir durch den Kopf. Außerdem war Weihnachten.

»Wenn du keine Dummheiten machst, darfst die Nacht bei mir im Wohnmobil verbringen«, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen verkünden. Der Husky stand auf, kam zu mir hinüber und drückte sich vertrauensvoll gegen meine Beine. Der Schwanz wedelte freudig und sein Blick war zum Dahinschmelzen. Mit dem Zeigefinger fuhr ich vorsichtig zuerst über das eine, dann über das andere Ohr und getraute mich schließlich, ihn am Nacken zu kraulen. Der Hund lehnte sich gegen mich, genoss jede meiner unbeholfenen Liebkosungen – ich hatte ja keine Erfahrung mit Vierbeinern. Wohltuende Wärme machte sich in mir breit, ohne dass ich mit Rum nachhelfen musste. Alle Angst, alle negativen Gedanken waren verschwunden, ich fühlte plötzlich tiefen Frieden. Der Hund brummte zufrieden. Eine Weile streichelte ich ihn stumm, genoss den Kontakt mit seinem seidigen Fell und spürte seinen Herzschlag unter meinen Fingern. Dann meldete sich mein Magen mit leisem Knurren.

»Zeit fürs Abendessen.« Ich schaute nach, was der Kühlschrank hergab. Beim überstürzten Packen hatte ich kaum darauf geachtet, was ich hineinstopfte, und ich hoffte, es würde ausreichen, den Weihnachtsabend wenigstens ein bisschen festlich zu gestalten. Zu meiner Freude entdeckte ich eine Packung Frikadellen, verschiedene Käsesorten, etwas Schinken, Räucherlachs, zwei rote Paprikaschoten, Butter und Kartoffelsalat. Natürlich hatte ich kein Hundefutter, doch Frosty, wie ich den Husky insgeheim getauft hatte, verputzte klaglos die Hälfte der Frikadellen und die gesamte Leberwurst.

Nachdem ich das Geschirr gespült und weggeräumt hatte, schaltete ich das Radio ein und machte es mir auf der Sitzgruppe gemütlich. Frosty legte seinen Kopf auf meine Knie und schaute mich dankbar an. Ich streichelte ihn versonnen, lauschte der Weihnachtsmusik und genoss die Ruhe. Irgendwann fielen mir die Augen zu und ich schlief tief und fest. Ein lautes Klopfen ließ mich hochschrecken. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, brauchte ein paar Sekunden, um mich zu erinnern. Mit Mühe kam ich auf die Beine, die ich auf der Sitzgruppe nicht hatte ganz ausstrecken können und die sich nun steif anfühlten. Auch mein Rücken protestierte, weil ich die Nacht nicht im Bett verbracht hatte. Erneut klopfte es. Wer mochte das sein? Ich schob das Fensterrollo ein wenig nach oben, um verstohlen herauszulinsen. Ein dick gegen die Kälte eingemummelter Mann stand im fahlen Morgenlicht vor dem Wohnmobil. Konnte ich es wagen, die Tür aufzumachen?

»Hallo! Bei Ihnen alles in Ordnung?«, rief der Mann. Frosty gab ein warnendes Grollen von sich, das tief aus der Kehle kam.

Ich zögerte, schaute nochmals hinaus und sah, dass ein Räumfahrzeug neben dem Wohnmobil abgestellt war. Ich gab mir einen Ruck und öffnete die Tür einen Spalt breit.

»Ich bin gestern im Schneetreiben nicht weitergekommen und habe beschlossen, hier zu übernachten«, erklärte ich.

»Eine kluge Entscheidung.« Der Mann nickte. »Sogar mit dem Räumfahrzeug hatte ich auf einigen Straßenabschnitten Schwierigkeiten durchzukommen. Aber inzwischen sind die Straßen wieder frei, es hat angefangen zu tauen. Sie können Ihre Fahrt problemlos fortsetzen.«

Frosty drängte sich an mir vorbei und blieb mitten in der Tür stehen. Knurrte warnend. Der Mann runzelte die Stirn.

»Das ist doch der Husky vom alten Edmund. Was macht der denn bei Ihnen?«

»Er ist gestern Nacht hier aufgetaucht«, sagte ich und verschwieg tunlichst, dass ich vor einem vermeintlichen Wolf in Panik geraten war. »Wegen des Wetters wollte ich ihn nicht hinausjagen. Er ist total lieb.«

»Ja, der tut trotz seiner Größe keiner Fliege was«, bestätigte der Mann. »Der alte Edmund hat ihn als Welpe aus dem Tierheim geholt, das hat er ihm nicht vergessen. Er liebt sein Herrchen aus tiefster Seele.«

Ich spürte, wie mir die Kehle eng wurde. Der Hund war mir in den wenigen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten, ans Herz gewachsen. Unbewusst hatte ich die kindische Hoffnung gehegt, dass er bei mir bleiben würde. Aber das konnte er nicht, er war ja nicht meiner. »Dann wird es höchste Zeit, dass er zu seinem Herrchen zurückkehrt«, sagte ich. »Er wird ihn sicherlich schon vermissen.« Ich setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. »Ab nach Hause mit dir!« Ich gab dem Husky einen kleinen Schubs, doch er weigerte sich, aus dem Wohnmobil zu springen.

Der Mann wirkte mit einmal bedrückt. »Der alte Edmund ist ganz überraschend kurz vor letztem Weihnachten gestorben«, sagte er. »Seitdem stromert der Hund herum, schläft im Sommer draußen und im Winter in Scheunen. Manchmal nimmt er von den Leuten hier in der Gegend Futter an, aber er lässt sich nicht ins Haus locken. Ein Streuner ist er geworden.«

Der Hund drückte sich gegen meine Beine, gab ein leises Winseln von sich.

»Erstaunlich, dass er so schnell Vertrauen zu Ihnen gefasst hat«, meinte der Mann.

»Dabei habe ich überhaupt keine Erfahrung mit Hunden.«

»Das scheint ihn nicht zu stören. Er hat Sie ins Herz geschlossen, wie damals den alten Edmund.«

»Was soll ich tun?« Fragend schaute ich vom Mann zum Hund und zurück.

Der Mann antwortete nicht sofort, schien nachzudenken. »Ganz einfach«, sagte er schließlich. »Nehmen Sie ihn mit, geben Sie ihm ein neues Zuhause. Das wäre sicherlich auch im Sinn des alten Edmund.«

»Aber das geht doch nicht, selbst wenn ich es wollte. Auf einen Hund bin ich nicht eingestellt. Außerdem wohne ich in Süddeutschland, ich würde ihn aus seiner gewohnten Umgebung reißen. Er würde sich bei mir nicht wohlfühlen.«

Der Hund rückte ein Stück von mir ab, setzte sich auf die Hinterpfoten und hob die rechte Vorderpfote. Dabei warf er mir aus seinen ungewöhnlichen Augen einen herzzerreißenden Blick zu.

Der Mann lachte leise. »Ich glaube, er hat Ihnen gerade die Entscheidung abgenommen. Er hat sein neues Zuhause gefunden.«

»Nein, ich kann das nicht.« Nervös strich ich mit der Hand über die Stirn, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich durfte mich nicht von meinen Gefühlen leiten lassen. Fakt war, dass ich vor Hunden Angst hatte. Auch waren weder das Haus noch der Garten für einen so großen Hund geeignet. Er brauchte sicherlich viel Auslauf. Die Rasse wurde als Schlittenhund eingesetzt, ihm würde eine Runde durch den Park nicht genügen. Mir fehlte es an Zeit. Und an Wissen. Ich war kein Hundemensch. Und zudem seit kurzem Single, hatte keinen Partner, der mich unterstützen würde.

»Nein.« Bedauernd schüttelte ich den Kopf. »Auch wenn ich es möchte – ich kann ihn nicht adoptieren.«

Der Hund setzte die Vorderpfote wieder auf den Boden, ließ den Kopf betrübt hängen, so als hätte er mich verstanden.

»Warum nicht?« Das Gesicht des Mannes drückte Unverständnis aus. »Wenn ich es richtig sehe, sind Sie allein und der Hund ist es auch. Was spricht dagegen, dass Sie sich zusammentun? Außerdem ist Weihnachten, die Zeit der Wunder und von Geschenken. Die Liebe und das Vertrauen eines Tieres ist das größte Geschenk, das uns Menschen gemacht werden kann. Nehmen Sie es an! Was Besseres kann Ihnen nicht passieren.«

Ich verharrte unschlüssig auf der Türschwelle.

Der Mann wandte sich ab, schien enttäuscht. »Machen Sie, was Sie wollen. Ich muss weiter, habe noch ein paar Straßen zu räumen und zu streuen. Frohe Weihnachten.« Er stieg in sein Räumfahrzeug und war kurz darauf verschwunden.

Langsam schloss ich die Tür, kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Der Hund stupste mich mit der Nase an. Ich ging in die Knie.

»Was machen wir denn nur?«, flüsterte ich. Der Hund legte den Kopf auf meine Schulter, schmiegte seine Wange gegen meinen Hals. Verharrte still, vertrauensvoll. Ich umarmte ihn. Zum Abschied, wie ich dachte. Und dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Von einer Sekunde auf die andere waren alle Bedenken verflogen. Ich konnte nur eine einzige Entscheidung treffen.

»Wollen wir es miteinander versuchen? Willst du mitkommen?«, flüsterte ich in sein seidiges Fell.

Wir hoben beide den Kopf. Blickten uns in die Augen. In den seinen konnte ich all die Liebe erkennen, die er bereit war zu geben.

»Hallo Frosty. Willkommen in deinem neuen Leben«, sagte ich und wischte mir eine Träne von der Wange. Frosty bellte und sprang vor Begeisterung auf und ab, wodurch er das ganze Wohnmobil zum Schwanken brachte, wie ein Schiff im Sturm.

»Stopp«, rief ich grinsend und wurde wieder ernst. »Wir werden eine tolle Zeit miteinander haben«, versprach ich.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Frosty ist grau um die Schnauze geworden und seine blauen Augen haben sich ein wenig eingetrübt. Wir haben viel zusammen erlebt: den Verkauf des Hauses und den Umzug in eine Erdgeschosswohnung. Die Scheidung, bei der so einiges nicht einvernehmlich vonstattenging. Eine Krankheit, die mir schwer zu schaffen gemacht hat, die ich letztlich jedoch überwand. Eins ist uns geblieben: Das Wohnmobil und die Liebe, die uns von unserer ersten Begegnung an verbindet. Bis an das Ende unserer Tage. Und nun ist es wieder so weit: Abermalig ist ein Heiligabend angebrochen, den wir gemeinsam im Wohnmobil verbringen. Mitten in der Natur, wo Frosty sich am wohlsten fühlt. Und alle Jahre wieder erfreuen wir uns des Geschenkes, das uns beiden in jener verschneiten Nacht gemacht wurde. Frosty unterhält mich mit seinen Späßen: Er legt den Kopf in den Nacken und heult wie ein Wolf, für den ich ihn einst hielt. Die Erinnerung bringt mich zum Lachen. In das Lachen mischen sich ein paar verstohlene Tränen. Ich weiß, dass Frosty nicht ewig bei mir bleiben kann. Und ich bete stumm, dass uns mindestens noch ein weiteres gemeinsames Jahr vergönnt ist. Dass unser Weihnachtswunder noch lange andauert.

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